Werners Geschichten

Belanglose Frage

Kindern brachte man früher bei, jede Frage ehrlich zu beantworten. Doch keiner hat gesagt, wie man sich verhalten soll, wenn der Fragende keine Antwort erwartet. Spätere Erfahrungen haben mich gelehrt, dann besser die Unwahrheit zu sagen.
Nicht richtig? – Was antwortest Du denn auf die Frage: „Wie geht es Dir?“
Um nicht die Unwahrheit zu sagen, antworte ich : „Mein heutiger Zustand hat sich gegenüber gestern kaum verändert, also geht es mir gut!“ – Aber das ist auch nicht ganz die Wahrheit.
Dann kam mir der Gedanke, durch eine ehrliche Antwort das Problem auf mein Gegenüber zu verlagern. Versuchsobjekt sollte eine an sich liebenswerte Nachbarin sein. Von ihr wußte ich, daß sie viel redet, oft fragt, aber keine Antwort erwartet. Gerne sprach sie von ihren allein lebenden erwachsenen Söhnen, die intelligenter als ihr Vater seien und alles können, sogar kochen (ihre Unterhosen brachten sie jedoch zum Waschen immer noch zur Mutter). Der weniger intelligente 80-jährige Vater, der nach ihren Worten im Haushalt kaum für das Staubsaugen zu gebrauchen war, hatte es im Beruf »nur« bis zum Bankdirektor gebracht.
Einmal hatte ich die Ausdauer der Nachbarin getestet. Ich begegnete ihr, als sie mit prall gefüllten Taschen vom Einkaufen kam. Die konnte sie auf dem nassen Gehweg nicht abstellen, so glaubte ich an ein kurzes Gespräch. Doch nach einer Stunde verabschiedete ich mich und ging in die Garage – obwohl ich dort gar nichts zu tun hatte. Ins Haus wollte ich sie nicht mehr begleiten. Sollte es noch einmal eine ähnliche Situation geben, würde ich anders reagieren.
Einige Zeit verging, aber die Gelegenheit kam.
Ich konnte der Nachbarin unmöglich ausweichen und grüßte sie freundlich. Sie stellte ihre Beutel ab und sagte: „Das ist aber schön, Herr Nachbar, wir sehen uns so selten. Wie geht es Ihnen? Wissen Sie, meine Söhne … “ –
Ich unterbrach sie und sagte fest entschlossen, sie nicht zu Wort kommen zu lassen: „Danke, Frau Nachbarin, nur wenige interessieren sich für das Ergehen des Nächsten. Und wenn wirklich einer fragt, dann will er oft gar keine Antwort haben. Aber ich antworte Ihnen gern.“
Unbeirrt fuhr ich fort: „Ach, die Gesundheit ist so eine Sache. Die Wirbegelsäule quält mich seit Jahren, auch die Knie bereiten mir Schmerzen, sogar nachts. Schlafen kann ich auch schlecht. Meine Frau sagt, daß ich schnarche und der Atem aussetzt – bis zu 2 Minuten. Das ist gefährlich. Darum bin ich am Tag immer müde und zerschlagen. Die Gallenblasen-Operation war weniger schlimm als die Koliken vorher. Vom Blutdruck und Cholesterinspiegel will ich gar nicht reden, das tut ja nicht weh. Ich nehme Tabletten, um den Gerinnungsfaktor des Blutes bei 25% zu halten, damit sich die Thromben auflösen, bevor sie Herz oder Lunge erreichen. Ich hatte schon eine Lungenembolie, sie verläuft zumeist tödlich. Ich habe zwar überlebt, darf mich nun aber nicht verletzen, sonst verblute ich. Aber ständig muß ich den Wert überprüfen lassen. Das Warten beim Arzt schlägt mir aufs Herz, das sowieso schon unregelmäßig klopft, nicht vor Freude.“
Ich wagte kaum Luft zu holen, um keine Pausen zu machen und sprach unbeirrt weiter:
„Nun hat der Arzt Diabetes festgestellt. Ich darf nichts Süßes essen. In der Speiseröhre habe ich Ausstülpungen. Viel schlimmer ist jedoch der Rückfluß des Mageninhalts in die Speiseröhre, Sodbrennen nennt man das. Dadurch kann Krebs entstehen. Aus dem Darm wurden schon mehrmals Polypen entfernt, das ist sehr unangenehm. Viel bekommt man ja nicht mit, es wird unter Narkose gemacht. Ja, Frau Nachbarin, man hat es nicht leicht, der Zahn der Zeit nagt an uns. Wenigstens mit den Zähnen habe ich vorläufig Ruhe, die sind saniert. Auch wegen grünen Stars bin ich in Behandlung. Ich erblinde allmählich auf dem linken Auge. Meine Augenärztin versuchte mich zu trösten und sagte, wenn es mal soweit wäre, dann sähe ich auch das ganze Elend in der Welt nur noch halb. Na, ich höre lieber auf, sonst kriege ich noch einen Herzinfarkt. – Es war nett, mit Ihnen zu plaudern, aber ich muß leider weiter!“
Ich verabschiedete mich und ging grinsend meines Weges – und fühlte mich sogar wohl, zufrieden darüber, auf ganzer Linie wahrhaft geblieben zu sein. Vielleicht habe ich das eine oder andere vergessen, aber das ist verzeihlich, es war schließlich eine Premiere. Aber es hat offenbar gewirkt, denn ihr Gesichtsausdruck hatte sich während meines Monologs von anfänglicher Aufmerksamkeit über Fassungslosigkeit bis zum Entsetzen geändert. Das ist ihr bisher wohl noch nie passiert, daß jemand sie so eingedeckt hat und nicht zu Wort kommen ließ, unfaßbar.
Meine Frau Nachbarin wird es sich bestimmt gut überlegen, ob sie noch einmal die Frage
stellt: ‚Wie geht es Ihnen?’.

Und die Moral von der Geschicht’:
Frag nach dem Wohlergehen nicht,
wenn es dich gar nicht interessiert!

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Kommentare

  1. Vielleicht ist die Frage nach dem Befinden gar nicht so schlecht, denn einen Anknüpfungspunkt muss es ja geben. Wenn Dich, lieber Werner, niemand mehr fragt, dann ist es Dir vielleicht auch nicht recht. Also vielleicht doch lieber einmal stehenbleiben?