Wer angibt...!
Die Pflichtschulzeit war vorbei. Unweigerlich drängte sich Gedankengang an Gedankengang, ratlos das Zwiegespräch meiner Eltern, was aus dem Jungen jetzt werden soll! Lehrstellen waren dazumal mehr als dünn gesät, und die wenigen Lehrplätze auf Jahre hinaus schon vergeben. Was nun, junger Mann?
Mehr durch Zufall ergab sich eine freie Arbeitsstelle im öffentlichen Dienst, die dankenswerterweise auch sofort angenommen und der ich 45 Jahre lang treu geblieben bin.
War schon ein Gfrett, damals mit mir. Als Steinbrucharbeiter völlig untauglich, da meine Patschhändchen war grade mal Fünfzehn mit Blasen übersät, teilte mich der Herr Straßenmeister in Anbetracht der unübersehbaren Umstände den Landvermessern zu. War meinem Vorgesetzten dankbar, damals noch nicht wissend dass ich auch mal ein so hoher Herr werden würde, avancierte ich wohl meinen Blasenhänden zuzuschreiben, weil Schönschrift seit eh und je ein Fremdwort zum Schreiberling des Herrn Vermessungsrates. Was der Herr Diplomingenieur an seinem Vermessungsgerät ablas, wurde von mir fein säuberlich in vorgedruckte Listen eingetragen.
Eines Tages, der Sommer war fast vorbei, das Laub der Bäume zeigte schon hie und da jene herbstliche Farbenpracht, die mich heute noch begeistert, waren wir mit Vermessungsarbeiten an der neuen Umfahrungsstraße beschäftigt. Als die Turmuhr der nahegelegenen Kleinstadt mit lauten Schlägen die Mittagsstunde einläutete, begab sich der Herr Vermessungsrat, übrigens ein lieber, leutseliger, schon etwas betagter Herr, in das nächstgelegene Dorfgasthaus, um sein dort in der Früh bestelltes - Mittagsmahl einzunehmen, derweil mir die Ehre zuteil ward, auf die wertvollen Vermessungsinstrumente acht zu geben.
Gerade als ich es mir auf der Straßenböschung bequem gemacht, um meine mitgebrachte Jause auszupacken, riss mich eine Erkenntnis und die damit verbundene blitzschnell gefasste Idee jählings wieder hoch. Kam da doch tatsächlich mein ehemaliger Mathelehrer gemächlich den Straßenrand entlang, direkt auf mich zugeschlendert. Blitzartig ließ ich mein Butterbrot fallen, sprang von der Böschung, schnappte mir in Windeseile Papier und Bleistift, und schon stand ich hinter dem auf einem langbeinigen Stativ aufgebauten Vermessungsinstrument. Guckte durch das Okular, schrieb und guckte und schrieb und
Naja, mehr schrieb ich lauter ungereimtes Zeug als dass ich durch das Objektiv schaute. Sah da nämlich nichts. Hatte in der Eile, in der ich mich befand vergessen, den Objektivdeckel zu entfernen.
Doch schon war der Mathelehrer heran, wollte grußlos an mir vorbei. Das konnte ich nun doch nicht zulassen, hätte überhaupt nicht in das von mir geplante Konzept gepasst.
Guten Tag, Herr Fachlehrer, grüßte ich laut. Der Studienrat drehte den Kopf jäh zu mir, guckte mich an. Ein Zug des Erkennens schien über die Gelehrtenstirn zu huschen. Dann zog er seinen Hut, dankte murmelnd, ging weiter.
Mir ging fast das Herz über im Hoch eines urplötzlich in mir aufsteigenden Selbstwertgefühles. Unbeschreibliche, innerliche Genugtuung machte sich breit. Der Herr Professor indes, schon meilenweit entfernt, drehte sich noch immer alle paar Schritte nach mir um, schüttelte verständnislos das Gelehrtenhaupt. Ging ihm wohl absolut nicht in den Sinn, dass sein ehemaliger Matheschüler, den er stets mit einem Zitat (du bist der größte Trottel) bedachte, ein Landvermesser geworden ist. Ich, hingegen erlebte wahre Glücksspiralen ohnesgleichen. Vergessen und vergeben die ominöse Zahl Fünf, die ständig meine Matheschularbeiten zierte, vergessen aber auch in dieser Euphorie mein Butterbrot da auf der Straßenböschung, mittlerweile von einem Heer Ameisen mit Beschlag genommen. Es zählte nur mehr die volkstümliche Weisheit: Wer angibt, hat mehr vom Leben
Kommentare