Traum(a)hafte Kindheitserlebnisse (2)

2. Teil

Sorge um Deutschlands Zukunft veranlaßte die Reichsführung, Kinder in ländliche Gebiete zu bringen, »Kinderlandverschickung« hieß das. So kam ich für viele Monate zu Kleinbauern nach Württemberg. Später brachte mich mein Vater nach Westpreußen zu meiner dorthin evakuierten Mutter. Brandbomben hatten das Haus und unsere Wohnung zerstört. Ein Zuhause gab es nicht mehr.
Im Herbst 1944 kamen erste Rückzugs-Meldungen von der Ostfront. Hitler und Goebbels sprachen immer noch von »Wunderwaffen« und »siegreichen Erfolgen«. Tatsächlich aber hatte der amerikanische General Eisenhower (später Präsident der USA) in Nordafrika die deutsche Armee unter Generalfeldmarschall Rommel (Vater des späteren Stuttgarter Oberbürgermeisters) bei El Alamain besiegt. Die Wehrmacht wurde an allen Fronten zurückgedrängt. Gleichzeitig gab es mehr Fliegerangriffe mit größerem Bomben (Luftminen), wodurch noch mehr Menschen umkamen und die Schäden größer wurden.
Der Verlust an Menschenleben (Front und Bomben) war sehr groß. Um das »Menschenmaterial« zu ersetzen, zog man 17-Jährige ein und erhöhte die Altersgrenze auf 65 Jahre. Später mußten sogar 15-jährige Kinder an Fliegerabwehrkanonen auf Flugzeuge schießen. Um Weihnachten hörten wir Geschützdonner von der Front. Ich hatte große Angst vor den Russen und Erinnerungen an die Bombennächte belasteten die kindliche Seele.
Mit Kindern und Greisen wollte Hitler den Krieg gewinnen. Mit knapp 12 Jahren »kämpfte« ich in der Heimat. Alle männlichen Bewohner von 10 bis 70 Jahren mußten bei minus 20 Grad C vor dem Dorf auf dem Acker wenige Meter neben der Straße Gräben ausheben. Der Boden war tief gefroren. In diesen Schützengräben sollten Soldaten das Dorf verteidigen. Doch hatte der böse Feind die »siegreiche Deutsche Wehrmacht« schon über 1000 km von Stalingrad bis hierher getrieben, dann würde ihn so ein lausiger Graben auch nicht aufhalten. Zum Glück dauerte der Einsatz nur bis zum Abend.
Wenige Tage später erging der Befehl zur Flucht. In der Nacht zum 21. Januar 1945 hatten alle Einwohner abmarschbereit zu sein. Wer zurückzubleiben versucht, werde erschossen.
Wir flüchteten mit dem Bauern, bei dem wir lebten. Auf dem Wagen lag alles Wertvolle und über Eisenbügel gespannte Kokosläufer sollten vor Schnee schützen. Mehrere Hemden und Pullover übereinander schützten vor Kälte. Statt Strümpfen bekam ich Fußlappen um die Füße. Die Schuhe (unbiegsame Holzscheiben, an die das Oberleder angenagelt war) hielten die Kälte kaum ab und Schnee drang durch die Ritzen. Auf Schnee- und Eisflächen konnte ich mich kaum auf den Beinen halten.
Noch ein wehmütiger Blick zurück und die Pferde legten sich in die Sielen. Knirschend rollten die Räder über den Schnee ins Ungewisse. Der Treck rollte aus dem Dorf in Richtung Graudenz. Die Front war schon sehr nahe.
Am Abend des nächsten Tages erreichten wir die Weichsel, weit und breit keine Brücke. Mit dem schwerbeladenen Fuhrwerk fuhren wir über das Eis des zugefrorenen Stromes. Der nächste Wagen durfte erst dann auf das Eis fahren, wenn der vorausfahrende die Mitte erreicht hat, um das Eis nicht mehr als nötig zu belasten. Vor uns stand eine lange Kolonne, weitere Wagen rollten heran. Ununterbrochen hörten wir Geschützdonner, die Angst wuchs und die Feldgendarmen konnten das Nachdrängen nur mühsam aufhalten. Längst war nicht nur ein einzelnes Fahrzeug auf dem Eis, der Abstand zwischen ihnen wurde immer kürzer, schließlich fuhr ein Wagen nach dem anderen.
Dumpf klang es unter den Hufen der Pferde, wenn sie mit den Stollen ins Eis hackten, um Halt zu finden. Ein schier endloses Stück Weg, ich war gequält von der Angst, einzubrechen und im eiskalten Wasser zu ertrinken. Doch wir erreichten das pommersche Ufer und fuhren den Deich hinauf – geschafft – diesmal, denn wer wußte schon, was uns noch alles erwartet.
Eine knappe Stunde später holte uns die schreckliche Nachricht ein, daß das Eis der Weichsel gebrochen sei und alle darauf befindlichen Wagen mit Mensch und Tier in den Fluten ertrunken wären, welch grausames Schicksal!
Die Flucht endete kurz vor Ostern in der Mark Brandenburg, wo ich Zeuge wurde, wie englische Tiefflieger wenige Tage vor Kriegsende einen kleinen Flüchtlingstreck mit fünf Fuhrwerken aus Westpreußen, die es bis hierher geschafft hatten, mit ihren Bordkanonen brutal niederschossen. Keiner hat überlebt, auch die Pferde waren tot.
Was dann die Russen nach ihrem Einmarsch anrichteten, besonders über Frauen und Mädchen, das wäre ein eigenes Kapitel meiner traum(a)haften Erlebnisse.
Bei Kriegsende war ich 13 Jahre alt, nun bin ich fast 80, aber ich werde diese Kindheitserlebnisse bis ans Lebensende nicht vergessen. Es reicht ein Knall, ein Brummen, ein Gedanke, um das Erlebte wieder vor meinen Augen erstehen zu lassen. Der Himmel schenke, daß sich solche Grausamkeiten nie wiederholen mögen.

Ähnliche Beiträge

Kommentare