Schlammschlachten
Die Gesichtslosen schleppten sich durch den Wüstensand. Keiner wusste, wie lange sie schon geradeaus, im Kreis- oder manchmal auch in Achterlinien marschierten. Jedem schien es zu genügen, ein Bestandteil der Gruppe zu sein. Irgendwer würde sich sicher um das Ziel kümmern. Wichtiger für sie war ihr Gepäck, das sie am Rücken trugen. Der Wind, der ihre Haut vorzeitig altern ließ, häufte vor ihnen Dünen auf, in die sie zu versinken drohten.
Endlich war der Strand erreicht. Der Weg führte nun zu einem Tunnel, aus dem ein rosa Licht leuchtete. Zuerst ging es ziemlich steil bergab, doch dann wurde es allmählich wieder eben. Vermutlich befand man sich jetzt mitten im Wasser, oder womöglich sogar unter dem Meeresboden. Niemand konnte darüber Auskunft geben. Die undefinierbare Beleuchtung wurde von nun an durch Fackeln abgelöst. Ihr unheimliches Flackern wurde von den gegenüberliegenden Wänden zurückgespiegelt. Anfänglich bemühte man sich noch, die Ausscheidungen möglichst am Rand des Tunnels zu platzieren. Doch bald war das nicht mehr nötig, denn die Namenlosen wateten bereits knöcheltief in Extrementen.
Bedrückend schwer lasteten die Rucksäcke auf ihren geschundenen Körpern. Aber keiner wagte es, sich von dieser Last zu befreien. Schließlich bedeutete sie ja ihre Identität. Alles war darin verstaut: Geld, Häuser, Autos, Schmuck, Karriere, Macht, Ruhm und was es sonst noch alles Erstrebenswertes gab. In den Seitenfächern verbarg man dann eine Reihe morbider Beziehungen, die nicht unbedingt ans Tageslicht kommen sollten, die man aber auch nicht bereit war, herzugeben. Irgendwie war es modern geworden, heimlich kaputte Freund- oder Feindschaften zu sammeln, so wie man sich in früheren Zeiten über einen neuen Bierdeckel freute. Nicht zu vergessen waren dann die Geheimfächer, in denen man Neid, Gier, Hass, Mordgelüste und sonstige, eher unerwünschte Gefühle sorgfältig verstaute. Leider konnte man diese jedoch nicht immer nach Bedarf hervorholen. Bisweilen führten sie ein recht peinliches und unkontrollierbares Eigenleben. Meistens tröstete man sich damit, dass ja doch die positiven Inhalte des Gepäcks überwogen.
Nun schien es wieder in die Tiefe zu gehen. Der Schlamm wurde immer höher und von der Decke begann übel riechendes Wasser herunterzutropfen.
Bis auf einen einzelnen Mann bemerkte keiner der Ausdruckslosen, dass sie bereits auf einen Point-of-no-return angekommen waren. Er versuchte sie zu warnen, doch sie hörten nicht auf ihn. Sie wurden erst aufmerksam, als er seinen unnötigen Ballast in die Kloake warf. Gierig stritten sie sich um die von ihnen so kostbar erachteten, doch leider etwas schmutzig gewordenen unerwarteten Geschenke. Anfänglich musste er sich mit Ellbogentechnik seinen Retourgang erkämpfen, doch allmählich traf er immer weniger namenlose Massen, bis er schließlich erschöpft, aber irgendwie erleichtert am Eingang des seltsamen Gefängnisses stand.
Vor seinen Augen breitete sich eine Oase aus, die er zuvor nicht gesehen hatte. Um sich zu beweisen, dass er keine Fata Morgana vor sich hatte, kletterte er sogleich auf eine Palme. Mit der gepflückten Kokosnuss konnte er sowohl seinen Hunger als auch seinen Durst stillen. Durch das leuchtende Grün von blumenübersäten Wiesen und fallweise Ödland näherte er sich immer mehr den schneebedeckten Gipfeln. In ferner Erinnerung sah er noch die Illusionsbeladenen Beziehungen, die sich alle wie regenbogenfärbige Seifenblasen in Nichts auflösten.
Nun wusste er, dass er die richtige Straße gewählt hatte. Ganz allmählich tauchte auch wieder sein Name aus seinem Inneren hoch. Pierre hatten ihn seine Eltern als Kind gerufen. Später jedoch geriet diese Identifizierung immer mehr in Vergessenheit. Wahrscheinlich deshalb, weil er als austauschbare Nummer in einer bedeutungslosen Menge mitlief. Pierre, was für ein sinnschwangerer Name! Er fühlte, dass es notwendig sein würde, sich Härte und Ausdauer anzueignen. Je höher er hinaufkam, desto schwieriger wurde es für seine Füße, einen sicheren Halt zu finden. Eisiger Schneewind fegte über sein Gesicht hinweg. Aber er ließ sich nicht entmutigen. Tapfer kämpfte er sich vorwärts. Da spürte er, wie in seinem Inneren langsam etwas zu wachsen begann. Sein wahres Ich war jahrzehntelang unter einem Trümmerhaufen begraben gewesen. Pierre hatte den Eindruck, dass mit jedem Atemzug sein eigentliches Wesen stärker und kräftiger wurde. Es war fast so, als ob sein Körper eine nie gekannte Freiheit einsaugen würde. Er bekam eine Ahnung davon, was er zeit seines Lebens gesucht hatte. Noch hat er seine Zielbestimmung nicht erreicht. Doch wusste er, dass er für seinen neu gewonnen Selbstwert bereit war, jede Anstrengung auf sich zu nehmen, um sich dieser geheimnisvollen Dimension jenseits des Horizonts würdig zu erweisen.
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