Leseprobe zu meinem Buch "Lehrer in zwei Systemen"
Neues Leben(Auszüge aus d.1.Kap.)
Ich gehe mal davon aus, dass es schönes Wetter war, als meine Mutter nach Hause kam und uns triumphierend die Goldene Aufbaunadel zeigte. Sie hatte als beste Aufbauhelferin der Leunawerke den diesjährigen ersten Preis, eine 2½ Zimmer Neubaumietswohnung in Leuna, gewonnen. Sie war 38 Jahre alt,die sich gegen das Alte auflehnte, um ihre beiden Söhne und sich selbst aus der Enge der Dachwohnung in der Langendorferstraße in Weißenfels zu befreien.
Ich sehe sie in Gedanken. Sie trägt einen Blaumann und sie raucht,ist fröhlich und unbeschwert nur, wenn sie an ihren Mann, meinen Vater, denkt, verzieht sie ihren Mund und wird steinhart. Sie reagiert trotzig und alles in ihr zittert vor Erregung, wenn sie von ihm spricht.
Mit dem Mute der Verzweiflung organisierte sie ihren Tagesablauf und unser Familienleben neu, den Aufbaustunden entsprechend. Sie arbeitete seit drei Jahren in der Ammoniakfabrik in Leuna als Maschinistin. Das bedeutete 12 Stunden- Schichten, Winter wie Sommer, rund um die Uhr, Knochenarbeit in einer Knochenmühle, dem VEB Leunawerke Walter Ulbricht,dem größten Chemiebetrieb Europas. Morgens kamen 8000 Schichtarbeiter mit Doppelstockzügen auf den Bahnhöfen in Leuna an. Ein grauer Menschenstrom, der sich aus jedem Zug wälzte und zu den Werkstoren strömte. Früh am Morgen gegen 5.30 Uhr kamen die Tagschichtarbeiter, 6.30 Uhr die Angestellten. Abends, um 18.30 Uhr, fuhren die ausgelaugten Schichtarbeiter wieder nach Hause, die Angestellten waren schon zwei Stunden weg.
In Leuna wurde aber rund um die Uhr gearbeitet, also kamen 17.30 Uhr die neuen Nachtschichtarbeiter an. Meine Mutter hatte im letzten Jahr nach jeder Nachtschicht freiwillig fünf Aufbaustunden drangehängt. Wenn sie nach dieser Mammutarbeit nach Hause kam,fielen ihr die Augen zu. Wir Jungen kamen aus der Schule und nahmen Rücksicht, am nächsten Morgen stand sie 4.30 Uhr auf, um im Dunkeln zum Bahnhof zu hasten und den Schichtzug zu erreichen.
Es war gewaltig, was sie im letzten Jahr geleistet hatte. Doch der Lohn, den sie erhielt, reichte nicht weit. Am 12. jeden Monats erhielt sie 180 Mark Abschlag, am 26. des Monats dann die Abrechnung, was ca. 200 Mark ausmachte...
Die Goldene Aufbaunadel erhielt sie eigentlich schon zum zweiten Mal, denn im vergangenen Jahr hatte sie mit etwa 385 Aufbaustunden nur den 2. Platz errungen. Die Mietswohnung erhielt damals ein Mann, der schon älter war und sie auch nötiger hatte, als unsere Mutter.
1958 wurde die Ehe meiner Eltern geschieden.
Nun folgten Jahre der Armut und Entbehrungen, in der aber die Weichen für mein Leben neu gestellt wurden. Meine Mutter ging nach Leuna arbeiten... Trotz dieser Entscheidungen reichte das Geld nicht aus. Am 10. und 24. jeden Monats war es in der Regel alle, es musste aber noch eingekauft werden....
1958 ging ich gerade in die 6. Klasse der Altstadtschule und verbinde damit nichts mehr, außer dem Schulweg und einem Papier- und Schreibwarenladen an der Ecke. Ich weiß, dass ich nicht fleißig war und meine Noten besser sein konnten,aber in Zeichnen stand ich Eins...Wir beschlossen, noch vor dem Ende dieses Jahres nach Leuna zu ziehen...
Ab ging die Fahrt durch Weißenfels, über die Brücke in die Neustadt und dann geradewegs auf der Chaussee nach Leuna... ich erlebte diese Fahrt als etwas Großartiges. Morgen schon würde für mich ein völlig neues Leben beginnen. Ich nahm mir vieles vor, was ich besser machen würde. Mit großen Augen bestaunte ich die Breite der Straßen in Leuna, den großen Platz vor dem Rathaus und die modernen Geschäfte links und rechts daneben. Dann hielt das Auto vor einem modernen Neubau. Wir stiegen ab und liefen hinter meiner Mutter her in das schöne, helle Haus in der Rosenstraße.
Was für ein Unterschied zu unserer alten Wohnung, wo eine halbe Treppe tiefer ein Wasserhahn für zwei Familien über einem schmierigen Gully ausreichen musste und das täglich benötigte Wasser aus einem Wassereimer neben der Eingangstür entnommen bzw. in dem Matscheimer daneben entsorgt wurde....
Die Zeit der großen Zinkbadewanne war damit vorüber, wo wir immer Sonnabends der Reihe nach gebadet hatten, erst wir Kinder, dann mein Vater und zuletzt meine Mutter. Jetzt brauchte keiner mehr heißes Wasser, in einem riesigen Topf vom Ofen zur Badewanne zu schleppen. Hier drehte man nur den Wasserhahn auf, und schon entzündete sich das Gas mit einer großen Flamme. Wenig später floss heißes Wasser aus dem Hahn, so heiß, dass man damit fast Tee aufbrühen konnte. Erst am Abend, als wir die Möbel in den Räumen verteilt hatten, begriffen wir die Bedeutung dieser neuen Errungenschaft. In Weißenfels lag ich im Schlafzimmer direkt unter den Dachziegeln, die im Winter mit Raureif gefroren waren... Das Werk arbeitete in der Nachbarschaft, die Erde dröhnte, und Spannung lag in der Luft. So schlief ich in dieser Nacht in der neuen Umgebung fest und zufrieden ein, in Erwartung des Neuen, das auf mich zukommen würde.
Hallo, Jousi
soeben habe ich die Leseprobe aus deinem Buch
gelesen. Mich hat der Inhalt interessiert, da ich
in Halle geboren bin. Meine Familie hat aber nur
von 1945-1949 dort gelebt, dann sind wir nach
Westdeutschland (Nordbaden, Nähe Mannheim) gezogen.
Wurzeln meiner Familie gehen auch nach Naumburg
und Weißenfels. Leider war ich nach der Wende nur
einmal in meiner Geburtstadt. Jetzt im Alter ist
ein Besuch durch eine Behinderung kaum noch
möglich.
Ich weiß nicht, ob meine Geschichte dich
interessiert.
Trotzdem, unbekannterweise grüße ich dich
herzlich und wünsche dir und deiner Familie
für das Jahr 2016 alles Gute.
Viele Grüße
hallenser (Peter)
Hallo, Jousi,
finde ich sehr interessant ! Ich habe schon als "Wessi" viele Berichte aus der ehemaligen DDR gelesen, und war fasziniert, was sich dort abgespielt hat. Da mein Mann "sozialistisch" eingestellt war, habe ich versucht, mich darüber zu informieren, es gibt aber nicht gerade viel (bei uns) darüber.Jetzt habe ich etwas mehr gelesen und interessiere mich immer noch !
Besonders natürlich die Schul-Erfahrungen, da ich selber im W. Lehrerin an der Hauptschule war, 33 J. lang.
Heute fällt mir auf, daß ich, seit 3 Jahren hier im "Ammerland" wohnend, vorwiegend Freundinnen aus der e.D. habe; sind sie "sozialer", aufgeschlossener als die Leute hier ? Da das mit Sicherheit ein Erz.-ziel war, wie genau fand das statt ?!
Bitte gib auch mal den Buchtitel usw. an, dann versuche ich es zu bekommen.
Liebe Grüße
Beamarie